«Wir befinden uns in einer Biodiversitätskrise»
In der Schweiz findet das Thema Biodiversität vor allem in der Landwirtschaft statt – eine verpasste Chance?
Barbara Dubach: Nicht nur die Landwirtschaft, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft sind auf die Ökosystemleistungen der Natur angewiesen: Die Luft, die wir atmen, das Wasser, das wir trinken oder die Nahrung, die wir essen. Die Natur erbringt auch weniger sichtbare Ökosystemdienstleistungen in Form von Kohlenstoffbindung, Schutz vor Überschwemmungen und Stürmen oder Bodenqualität.
Es ist ein krasser Gegensatz: 68% der Firmen sind abhängig von der Natur in ihrer Wertschöpfungskette. Aber nur 7% der Fortune Global 500-Unternehmen, den 500 grössten Unternehmen nach Umsatz, haben klare Biodiversitätsziele.
Was bedeutet die Biodiversitätskrise für unsere Mitglieder in der Chemie- und Pharma- sowie der Metallbau-Elektroingenieur-Branche?
Die Chemie- und Pharmaindustrie ist auf die Natur angewiesen: sie bezieht natürliche Rohstoffe, nutzt die Biodiversität für Forschung und Entwicklung oder lässt sich von biologischen Prozessen inspirieren. In der Metallbau-Elektroingenieur-Branche ist die Abhängigkeit weniger direkt, jedoch spielen die Verfügbarkeit von Rohstoffen wie auch Umweltüberlegungen in der Wertschöpfungsketten eine Rolle. Hauptrisiken sind Wasserknappheit, Veränderungen in der Waldproduktivität, Erdrutsche, Veränderungen der Süss- und Meerwassernutzung, Verlust von Baumbestand, Umweltverschmutzung sowie Beeinträchtigungen geschützter, erhaltener Gebiete und indigener Völker.
Für Unternehmen gilt es jetzt, neue Partnerschaften und Formen der Zusammenarbeit innerhalb und ausserhalb der Wertschöpfungskette zu entwickeln. Um Ressourcen zu bündeln und Wissen auszutauschen, um Hindernisse zu überwinden. Wichtig ist es für Unternehmen auch, zuerst ihre Biodiversitätsrisiken und -abhängigkeiten zu identifizieren, ihre Ziele zu definieren und diese auch extern validieren zu lassen. Ein weiterer Schritt ist es, nachhaltige Lieferketten sicherzustellen, natur-positive Lösungen zu entwickeln und zu skalieren sowie biodiversitätsfördernde Projekte zu unterstützen und über das eigene Engagement zu berichten.
Wo liegt die Verantwortung, bei den Unternehmen oder bei jedem einzelnen Mitarbeitenden?
Es ist sowohl Aufgabe von Unternehmen als auch von Einzelpersonen, aktiv zur Erhaltung der Biodiversität beizutragen. Unternehmen können jedoch eine Schlüsselrolle spielen, indem sie nachhaltige Praktiken in ihre Geschäftstätigkeiten integrieren.
Der Verlust von Biodiversität bringt erhebliche Risiken für die globale Wirtschaft, gleichzeitig bietet sich ein Feld an neuen Geschäfts- und Investitionsmöglichkeiten. Weshalb wird die Dringlichkeit des Themas trotzdem nicht wahrgenommen?
Die Diskrepanz zwischen dem Potenzial und der Umsetzung in Bezug auf Biodiversität könnte zurzeit noch auf mangelndes Bewusstsein, unzureichende Regulierung oder begrenzte Anreize zurückzuführen sein.
«Für Unternehmen gilt es jetzt, neue Partnerschaften und Formen der Zusammenarbeit zu entwickeln.»
Immerhin, die Politik reagiert nun langsam. Das Thema hält Einzug in einige EU-Richtlinien. Die EU und der Globale Biodiversitätsrahmen haben das Ziel festgelegt, bis 2030 30% der Land- und Meeresflächen zu schützen. Auch die Finanzwirtschaft ist aktiv geworden: Mit der «Nature Action 100» fordern Investoren von Unternehmen klare Ziele und Massnahmen um das Thema Natur und Biodiversität voranzutreiben. Unter den 100 Unternehmen finden sich u.a. auch DSM Firmenich, Glencore, Nestlé, Novartis und Roche.
Alle sprechen immer von der Klimakrise, dabei befinden wir uns in einer Biodiversitätskrise.
Ja, wir befinden uns in einer Klima- als auch in einer Biodiversitätskrise. Beide sind miteinander verflochten und weisen komplexe Wechselwirkungen auf. Der Verlust an Biodiversität kann negative Auswirkungen auf das Klima haben und umgekehrt. Gleichzeitig können viele naturbasierte Lösungen zu einer Reduktion der CO2-Emissionen führen. Wiederaufforstung, verbesserte Waldwirtschaft, Pflanzenkohle, Agroforstwirtschaft, Renaturierung von Moorlandschaften und die Verbesserung von landwirtschaftlichen Praktiken wären zum Beispiel solche Lösungen. Entscheidend ist, beide Themen als Herausforderung wie auch als Chance anzugehen. Es braucht umfassende Lösungen, die sowohl den Klima- als auch den Biodiversitätsschutz berücksichtigen.
Was ist Biodiversität?
Biodiversität umfasst die verschiedenen Lebensformen (Arten von Tieren, Pflanzen, Pilzen, Bakterien), die unterschiedlichen Lebensräume, in denen Arten leben (Ökosysteme wie der Wald oder Gewässer), sowie die genetische Vielfalt innerhalb der Arten (z.B. Unterarten, Sorten und Rassen). Kurz gesagt: Biodiversität ist die Vielfalt an Lebensräumen, Tier- und Pflanzenarten.
(Quelle: BAFU, Faktenblatt zum Internationalen Jahr der Biodiversität)
Fakten zur Biodiversität
- 1 Million Arten sind vom Aussterben bedroht, während 47% der natürlichen Ökosysteme bereits zurückgegangen sind.
- Natürliche Kohlendioxidsenken wie Wälder, Graslandschaften und Feuchtgebiete werden gerodet, um Platz für Nahrungsmittelanbau oder Palmöl zu schaffen. Gemäss dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) verliert die Welt jedes Jahr fast 10 Millionen Hektar Baumbestand, das entspricht etwa der Grösse von Island.
- Gemäss einer Studie von PwC sind 58 Billionen US-Dollar moderat oder stark von der Natur abhängig. Dies verdeutlicht, dass anhaltender Verlust von Natur und Biodiversität erhebliche Risiken für die globale Wirtschaft und die Gesellschaft birgt. Unternehmen sind gefordert, jetzt zu handeln.
- Gemäss Schätzungen vom World Economic Forum eröffnen sich im Bereich Biodiversität bis 2030 Geschäftsmöglichkeiten im Umfang von jährlich 10,1 Billionen US-Dollar. Diese tragen zu einer natur-positiven Zukunft bei und schaffen gleichzeitig 395 Millionen Arbeitsplätze.
- Eine kürzlich veröffentlichte Studie des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP) schätzt, dass etwa 7 Billionen US-Dollar an finanziellen Mitteln aus öffentlichen und privaten Quellen negative Auswirkungen auf die Natur haben.
Barbara Dubach
Die Gründerin und Geschäftsführerin des Kompetenzzentrums engageability beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren leidenschaftlich mit dem Thema Nachhaltigkeit und hat langjährige, internationale Erfahrungen in der Industrie, im öffentlichen und im Non-Profit-Bereich gesammelt. Seit kurzem ist sie auch Geschäftsführerin der Stiftung Innovate 4 Nature.
Autor*in
Manuela Donati
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