Schnüffelpause statt Burnout

In einem Interview mit Prof. Norbert K. Semmer wollen wir das Thema genauer beleuchten und einen Schwerpunkt auf die Entwicklung der letzten Jahre legen.
Prof. Norbert K. Semmer ist renommierter Forscher im Bereich Arbeits- und Organisationspsychologie und untersucht seit vielen Jahren «Stress am Arbeitsplatz». Im Interview gibt er uns einen Einblick, wie sich das Thema über einen längeren Zeitraum entwickelt hat und was Unternehmen, Führungskräfte und Mitarbeitende für weniger Stress am Arbeitsplatz konkret tun können.
Die Wahrnehmung von Stress verändert sich. Stress wurde früher nicht nur anders bewertet, sondern auch anders benannt. Früher hatte man Rückenschmerzen, wenn man erschöpft war, auch wenn man Stress am Arbeitsplatz hatte. Depressiv sein war weniger legitim.
Es kommt immer sehr darauf an, was man anschaut. Der Eindruck, dass Mitarbeitende immer mehr in weniger Zeit machen müssen, nimmt zu. Was damit zusammenhängt: Unternehmen möchten möglichst viel produzieren mit möglichst wenig Angestellten.
Wir haben insgesamt über Jahre viel Konstanz gesehen, mit einer Tendenz zur Zunahme. Während der Covid-Pandemie haben wir einen leichten Rückgang von Arbeits-Stress festgestellt – allerdings nicht überall, im Gesundheitswesen zum Beispiel nicht. Es gibt also Berufe, bei denen der «Stress am Arbeitsplatz» besonders stark ansteigt, und andere, bei denen es weniger stark ist. Hinzu kommen natürlich noch andere Faktoren, in diesem Fall vor allem Covid-bezogene Aspekte. Zum Beispiel haben Schlafprobleme zugenommen, wenn der Arbeitsstress zugenommen hat - und das in besonderem Masse, wenn es Schwierigkeiten bei der Kinderbetreuung gab. Allgemein ist aber das Gefühl, dass der Druck zunimmt, weit verbreitet.
Es gab schon immer neue Technologien. Digitalisierung beinhaltet insbesondere den Gedanken, mehr in weniger Zeit zu schaffen. Gleichzeit ist aber meine Erfahrung: Der Einsatz von neuen Technologien ist oft damit verbunden, dass Unternehmen die Technologie optimieren, aber die Arbeitsbedingungen darum herum nicht. Also, dass man zum Beispiel etwas von einer Maschine ausführen lässt, was früher Menschen gemacht haben. Die Menschen müssen dann aber die Maschine bedienen und stehen daneben. Man denkt nicht in Kategorien der Arbeitsgestaltung – oder viel zu wenig. Denn Menschen wollen Autonomie und abwechslungsreiche Tätigkeiten. Man sollte das bei der Einführung von jeder neuen Technologie bedenken.
Anstatt dafür zu sorgen, dass man mit den neuen Hilfsmitteln besser arbeiten kann, besteht nach meiner Erfahrung in den Unternehmen eher der Gedanke, den Menschen zu ersetzen. Die Frage ist immer: «Was macht die KI mit uns?» Es sollte aber heissen: «Was machen wir mit der KI?» Wie gestalten wir das Arbeiten mit KI und dabei gibt es in der Regel Gestaltungsoptionen. Vorgesetzte sollten diese im Blick haben und sich ebenso die Frage stellen, was schaffen wir jetzt für Arbeitsplätze und wie werden diese ausgerichtet.
Die Entwicklung geht in der Tat so rasant, dass die Gefahr besteht, dass Personen abgehängt werden. Ich denke, dass in Arbeitsverträgen der Zukunft Fort- und Weiterbildungen als verpflichtendes Element aufgenommen werden müssten. Denn heutzutage wird sehr viel investiert, insbesondere in die Fort- und Weiterbildung in Mitarbeitende, die in der Hierarchie eher höher positioniert sind, weniger aber für die Mitarbeitenden in den tieferen Hierarchiestufen. Das muss sich ändern. Fort- und Weiterbildungen sind für alle sehr wichtig.
Wir müssen es einfach immer wieder betonen, wie wichtig es ist.
Solche Ausfälle hängen von vielen Ursachen ab: die Arbeitsbedingungen, die privaten Bedingungen, die Person. Wir neigen dazu, die Rolle der Person zu sehr im Vordergrund zu sehen, z.B. in Bezug auf ungesunde Lebensführung, und die Rolle der Umstände, z.B. im Hinblick auf Belastungen in der Familie, aber eben auch in der Arbeit, zu unterschätzen.
Das gilt natürlich auch für Führungskräfte, und für die ist es oft nicht einfach, sich zu fragen, ob möglicherweise die Arbeitsbedingungen zu Problemen beigetragen haben. Zudem stehen sie selber natürlich auch unter Druck.
Ja, sie verändert sich. Stress wurde früher nicht nur anders bewertet, sondern auch anders benannt. Früher hatte man Rückenschmerzen, wenn man erschöpft war, auch wenn man Stress am Arbeitsplatz hatte. Depressiv sein war weniger legitim. Die Diskussion über Burnout hat da sehr geholfen. Und Burnout betrifft gerade die sehr engagierten Menschen, also diejenigen, die ein Über-Engagement zeigen und erste Symptome der Erschöpfung missachten. Der Begriff Burnout hat hier Gutes getan. Er schafft Legitimität für etwas wie Depressionen, d.h. «ich bin ausgebrannt, weil ich für etwas zu sehr gebrannt habe».
Das SOS-Modell geht davon aus, das eine Bedrohung des Selbstwerts eine wesentliche Quelle von Stress ist. Kein Mensch möchte als dumm, faul oder unfähig wahrgenommen werden – weder von sich selbst noch von anderen. Wir haben das grundlegende Bedürfnis, positiv gesehen zu werden. Deshalb reagieren wir auf kritische Situationen besonders sensibel. Hinter vielen Stressphänomenen steckt mehr als nur körperliche Überforderung. Anstrengung kann sehr positiv sein, aber wir möchten auch, dass unser Einsatz gewürdigt wird. Wenn das nicht der Fall ist, wenn wir uns abschätzig behandelt fühlen, dann ist das belastend. Das beschäftigt uns, beeinträchtigt die Freude an der Arbeit und führt dazu, dass uns die Arbeit viel weniger leicht von der Hand geht, dass wir uns aufraffen müssen. Auch das kostet Energie - und zwar unnötige Energie – was die hohen Anforderungen nur noch steigert.
Arbeitsbedingungen müssen also an unsere Fähigkeiten und Bedürfnisse angepasst werden – wie auch umgekehrt unsere Fähigkeiten an die Erfordernisse der Arbeit (s.o.: Fort- und Weiterbildung!). Zu den Bedürfnissen gehören dann z.B. eigene Handlungsspielräume und interessante Tätigkeiten, aber auch Anerkennung, Respekt und Wertschätzung. Dabei geht es nicht immer gleich um grosse Dinge – manchmal reicht schon eine kleine Bemerkung, um Anerkennung – oder eben auch Abwertung – zu signalisieren. Deshalb ist es für Führungskräfte wichtig, Arbeitsbedingungen zu schaffen, die Wertschätzung vermitteln, wertschätzend zu kommunizieren und bewusst mit Kritik umzugehen.
Führungskräfte können viel bewirken, wenn sie darauf achten, dass die Arbeit motivierend gestaltet wird. In der täglichen Kommunikation ist es oft wichtig, sich auf die kleinen, aber wichtigen Gesten zu konzentrieren. Oft geht es gar nicht um grosse Massnahmen, sondern um alltägliche Wertschätzung – einfach einmal «Merci» sagen oder die Meinung der Mitarbeitenden einholen. «Der Chef hat mich um Rat gefragt» - solche kleinen Gesten können viel Positives auslösen.
Drei Dinge sind besonders wichtig:
Wertschätzung zeigt sich nicht nur im Sozialverhalten, sondern auch in der Arbeitsgestaltung selbst. Eine interessante Aufgabe ist auch eine Form der Anerkennung.
Wertschätzung gilt aber auch umgekehrt: Auch Führungskräfte selbst wollen gute Arbeit leisten und geschätzt werden. Es ist also keine Einbahnstrasse – gegenseitige Anerkennung stärkt die Motivation auf beiden Seiten.
Unternehmen sollten derzeit vor allem darauf achten, die Belegschaft nicht mit Projekten, Reorganisationen und ständigem Wandel zu überfordern. Es geht darum, langfristig Burnout zu verhindern, anstatt kurzfristig auf Trends aufzuspringen. Eine engagierte Belegschaft braucht Unterstützung, und das bedeutet vor allem, Mitarbeitende frühzeitig einzubeziehen – auf allen Ebenen. Statt hektisch neue Massnahmen einzuführen, sollte man Geduld haben und die nötige Zeit investieren.
Wichtig ist auch eine offene Kommunikation: Frühzeitige Informationen und die Einbindung der Mitarbeitenden sorgen dafür, dass Veränderungen eher mitgetragen werden. Es geht darum, Vertrauen aufzubauen und Ängste abzubauen.
Das braucht Zeit. Veränderungen passieren nicht von heute auf morgen. Es ist wichtig, Führungskräfte zu schulen und Bewusstsein für die Bedeutung von Wertschätzung und Kommunikation zu schaffen.
Der Schlüssel ist, Personen im Unternehmen zu haben, die wirklich für das Thema brennen – sie können andere mitreissen und echte Veränderungen anstossen. Es lohnt sich, Verbündete zu suchen und gemeinsam daran zu arbeiten.
* Datenauswertung von BAK economics im Auftrag von Angestellte Schweiz, April 2025