Durch die Arbeitsgeschichte der Schweiz

In der Schweiz sind die Rechte der Angestellten per Gesetz geschützt. Im Interview schaut Pascal Richoz vom SECO gemeinsam mit uns auf die spannenden Entwicklungen zurück.

Vom Bundesgesetz über die Fabriken aus dem Jahr 1877 bis zu den Gesamtarbeitsverträgen entwickelt sich das Schweizer System zum Schutz der Arbeitnehmer*innen seit über 100 Jahren kompromissbereit weiter. «Wenn man sich nur auf die Gegenwart konzentriert, versteht man nicht alles», sagt Pascal Richoz.

 

1877 machte der Bund mit dem Fabrikgesetz einen ersten Schritt zum Schutz der Arbeiter*innen. Welcher Kontext führte zu diesem für die damalige Zeit innovativen Schritt?

Die Schweiz befand sich in einem brennenden Moment ihrer Wirtschaftsgeschichte, mit der industriellen Revolution, die eine im Wesentlichen auf Handwerk und Landwirtschaft basierende Logik umwälzte. Man erkannte die gesundheitlichen Herausforderungen für die Arbeitnehmer“innen - lange Arbeitszeiten, Exposition gegenüber Chemikalien und Unfälle. Das Bundesgesetz über die Fabriken war ehrgeizig, auch wenn es nur für die Industrie galt. Ein Bundesinspektorat zur Überprüfung seiner Anwendung wurde geschaffen, das durch eine wegweisende Öffentlichkeitsarbeit weithin sichtbar gemacht wurde. Die Hauptbotschaft: Rentabilität geht nicht auf Kosten der Gesundheit der Menschen.

 

Das Gesetz wurde knapp angenommen und folgte damit einer Bewegung, die bereits in den Kantonen begonnen hatte. Kann man sagen, dass die Kultur des Kompromisses gewirkt hat?

Ja, das Vorgehen wäre heutzutage nicht anders gewesen: ein vom Bundesparlament verabschiedetes Gesetz, dann ein Referendum, das aber scheiterte... Es handelte sich wirklich um eine Angelegenheit der öffentlichen Gesundheit, das Gesetz hatte nicht in erster Linie das Ziel, die Wirtschaft zu unterstützen. Es sorgte aber dennoch dafür, dass eine rentable Produktionsweise beibehalten wurde: Die Notwendigkeit, einen Ausgleich zwischen den Interessen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer*innen zu finden, war bereits die Grundlage des Gesetzes.

 

Welches sind die Schlüsselmomente in der Entwicklung dieses Gesetzes von 1877 bis heute?

Der allmähliche Übergang von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft erforderte zunächst die Identifizierung neuer Risiken, die speziell mit der industriellen Tätigkeit verbunden waren. Bis zum Ersten Weltkrieg leisteten die eidgenössischen Inspektor*innen immense Forschungsarbeit - welche Produkte z. B. gesundheitsschädlich sind. Mit dem gesammelten Wissen konnte eine Grundlage geschaffen werden. Dann wurde 1912 die Unfallversicherung SUVA gegründet. Die 1950er-Jahre führten zu der Erkenntnis, dass ein universelleres Schutzgewebe benötigt wurde, und 1964 wurde das Fabrikgesetz durch das Arbeitsgesetz mit einem viel breiteren Geltungsbereich ersetzt.

Ab den 1980er-Jahren wurde der Schwerpunkt stärker auf die Prävention gelegt, insbesondere mit der Einführung des Unfallversicherungsgesetzes und der Schaffung der Eidgenössischen Koordinationskommission für Arbeitssicherheit (EKAS). Unterschwellig hat sich die Dominanz des sekundären Sektors in unserer Wirtschaft zugunsten des tertiären Sektors abgeschwächt. In unserer Dienstleistungsgesellschaft haben sich auch die Gefahren weiterentwickelt und die psychosozialen Risiken sind heute stärker sichtbar.

 

In diesem Zusammenhang wird oft behauptet, dass Erschöpfungszustände wie Burnout eine Neuheit unserer Zeit sind. Doch die damaligen Bedingungen, auch wenn sie reguliert waren, waren im Vergleich zu den heutigen Standards wenig vorteilhaft...

In der Tat erlaubte das Fabrikgesetz einen 11-Stunden-Arbeitstag. Wenn man sich die Arbeitsbedingungen des 19.Jahrhunderts ansieht, insbesondere was die Arbeitszeiten betrifft, kann ich nicht glauben, dass es keine Erschöpfung gab. Was das Gleichgewicht zwischen Berufs- und Privatleben angeht, war es extrem ungünstig, es war normal, von Montag bis Samstag zu arbeiten.

Ich denke, dass sich das Vokabular weiterentwickelt hat und man sich mehr traut, über bestimmte Probleme zu sprechen. Was die wöchentliche Arbeitszeit betrifft, gibt es heute zwei Obergrenzen im Gesetz: 45 oder 50 Stunden, je nach Bereich. Es war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine politische Herausforderung, diese Obergrenzen zu senken. Die Erwartungen der Beschäftigten haben sich eindeutig geändert.

 

Gibt es also heute noch Herausforderungen oder geht es nur darum, das Erreichte zu bewahren?

Im Bereich der Arbeitssicherheit wurde ein grosser Schritt nach vorne gemacht. In Bezug auf die Gesundheit ist dies weniger der Fall. Wenn ein Unfall am Arbeitsplatz passiert, spricht das jeden an, es ist konkret, und man kann meistens sehr klare Kausalzusammenhänge zwischen der Arbeitsumgebung und den gesundheitlichen Folgen herstellen. Das erleichtert den Verbesserungsprozess und die Präventionsarbeit, die durch einen zweckgebundenen Prämienzuschlag finanziert wird, trägt Früchte.

Im Bereich der Gesundheit am Arbeitsplatz ist das Schweizer System recht restriktiv, was die Anerkennung von Berufskrankheiten betrifft. Der Zusammenhang zwischen der Arbeitsumgebung bzw. der Exposition und dem Auftreten der Krankheit muss sehr klar nachgewiesen werden. Während dies bei einigen Arten von Krankheiten der Fall ist, z. B. bei Mesotheliomen, die auf eine berufliche Asbestexposition zurückzuführen sind, ist es bei vielen Krankheiten weitaus weniger eindeutig, dies festzustellen. Beispielsweise könnte man sich manchmal fragen, ob die Exposition gegenüber bestimmten Stoffen im Arbeitsumfeld eine Krankheit verursachen kann, aber die Quelle kann auch woanders liegen, und es ist nicht immer leicht, die Dinge auseinanderzuhalten.

Arbeitgeber*innen haben zwar die Pflicht, die Gesundheit ihrer Mitarbeiter*innen zu schützen - dies ist keine Option -, aber man kann sie nicht a priori für Risiken verantwortlich machen, die nicht eindeutig mit der Arbeitsumgebung in Verbindung stehen. Bei psychosozialen Risiken ist dies noch schwieriger, da die Ursachen oft schwer zu objektivieren. Wie dem auch sei, die Prävention im Bereich der Gesundheit am Arbeitsplatz bleibt eine grosse Herausforderung.

 

Welche Wege sind denkbar, um diesen Punkt zu optimieren?

Manchmal hört man, dass die Häufigkeit der Kontrollen einfach erhöht werden sollte. Aber würde man die Probleme wirklich halbieren, wenn man die Kontrollen verdoppelt? Diese Argumentation ist eindeutig zu reduktionistisch, auch wenn man die abschreckende Wirkung von Kontrollen nicht leugnen kann. In jedem Fall ist ein besseres Bewusstsein für die Risiken absolut notwendig. Es geht darum, eine „Win-Win“-Logik zu pflegen: Ich mag es nicht, die Interessen der Arbeitnehmer*innen und der Arbeitgeber*innen gegeneinander auszuspielen, denn negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Mitarbeiter*innen werden auch Folgen für die Rentabilität nach sich ziehen.

Eine bessere Kommunikation über die bestehenden Risiken hat den Vorteil, dass die betroffenen Kreise verantwortlich und selbstständig handeln können. Eine Integration in die Unternehmensprozesse ist die beste Antwort, die man geben kann. Ich spreche von einer systemischen Logik, die sich an die neuen Arbeitsformen anpassen muss. Punktuelles Handeln reicht nicht aus.

 

Gegenwärtig ist die Arbeitswelt im Wandel... Müssen wir mit einer Weiterentwicklung des gesetzlichen Rahmens rechnen?

Gesetze legen eher allgemeine Grundsätze fest und Verordnungen ergänzen sie, indem sie spezifischere Regeln festlegen. Im Bereich des öffentlichen Arbeitsrechts ist die Palette der Verordnungen sehr breit. Seit den 1960er-Jahren hat sich das Gesetz relativ wenig bewegt, aber zahlreiche Verordnungsänderungen haben es ermöglicht, die Entwicklung der Arbeitswelt und die der Risiken zu berücksichtigen. Meiner Meinung nach befinden wir uns eher in einer Phase der aufmerksamen Beobachtung als am Vorabend einer kompletten Neugestaltung des Systems.

Es gibt natürlich einige Baustellen, man anschauen könnte, aber dazu brauchen wir einen Konsens zwischen verschiedenen Akteur*innen mit unterschiedlichen Interessen.

Die Rolle des SECO besteht insbesondere darin, das Gleichgewicht zwischen den gesundheitlichen Herausforderungen und dem gesellschaftlichen Wunsch nach mehr Flexibilität am Arbeitsplatz zu wahren, aber das kann es nur innerhalb des bestehenden gesetzlichen Rahmens tun. Der Gesetzgeber hat eine gewisse Flexibilität vorgesehen, aber Ausnahmen von den Verboten der Nacht- und Sonntagsarbeit werden gemäss der Rechtsprechung des Bundesgerichts nur sehr sparsam gewährt.

Es ist wichtig festzuhalten, dass das Gesetz der Entwicklung der Gesellschaft gefolgt ist, und was die Arbeitswelt betrifft, so waren es immer die Sozialpartner*innen, die den Ton angegeben haben, sie stehen im Zentrum der Rechtswirklichkeit. Wenn man zu bestimmten Zeiten bereit war, die Regeln anzupassen, so war dies immer das Ergebnis von Kompromissen. Man kann nicht einfach alles umstossen, nur weil es nicht modern genug ist.

Weiteren Informationen über den SECO

Das SECO ist das Kompetenzzentrum des Bundes für wirtschaftspolitische Fragen. Es setzt sich für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum, eine hohe Beschäftigungsfähigkeit und faire Arbeitsbedingungen ein. Es übt eine Oberaufsichtsfunktion über die Anwendung des Bundesgesetzes über die Arbeit aus und begleitet dessen Entwicklung.

Pascal Richoz

Pascal Richoz ist seit 2008 Leiter des Leistungsbereichs «Arbeitsbedingungen» des Staatssekretariats für Wirtschaft. Er hat einen Abschluss in Geisteswissenschaften. Er ist seit 1989 im Dienst des Bundes und hatte dort nacheinander verschiedene Kaderfunktionen inne, bevor er zum SECO wechselte.

 

 

Autor*in

Laure Fasel

Laure Fasel

Artikel zum Thema

Mitglied werden und profitieren

Werde Mitglied von Angestellte Schweiz und schliesse dich unseren 12'000 Mitgliedern an.