Vom Burnout zur ADHS-Diagnose
Von Thomas M. erfahren wir, dass er sehr schnell das Interesse an einer Arbeit verliert, sobald daraus Routine wird. Dies erschwerte ihm früher den Arbeitsalltag massiv. Ist dies typisch für ADHS-Betroffene?
Ja, viele ADHS-ler*innen kennen diese Problematik, denn ein Aspekt bei ADHS ist die Abbaugeschwindigkeit biochemischer Botenstoffe. Die Botenstoffe Dopamin und Noradrenalin sind für Aufmerksamkeit, Motivation und Belohnung zuständig; bei ADHS stehen sie oft nicht ausreichend im synaptischen Spalt zur Verfügung oder werden (zu) schnell abgebaut, was die Signalübertragung zwischen Nervenzellen beeinflusst. Dies führt dazu, dass eine Aufgabe entweder neu, interessant oder dringend sein muss, um entsprechend Handlungsmotivation zu erzeugen.
Ein anderes Thema, das Thomas M. beschäftigt: Er leidet sehr lange unter einem schlechten Gewissen, wenn er glaubt, jemanden kritisiert zu haben.
Auch dies sieht man bei ADHS häufig. Durch Impulsivität rutschen ADHS-ler*innen oft Sätze aus dem Mund, die sehr ungefiltert und direkt sind - und sie ecken damit gerne an. Das schlechte Gewissen kann also eine gelernte Erfahrung sein, dass Gesagtes verletzend war.
Warum zeigt der ADHS-Betroffene ein ausgeprägtes Suchtverhalten?
Gleichzeitig kann auch die Wahrnehmung von Reizen weniger gefiltert und viel intensiver sein - und das Nervensystem entsprechend gefordert. Das Rauchen ist dann eine ungesunde Bewältigungsstrategie, um dieses überreizte Nervensystem zu beruhigen.
Bei den Kindern gibt es den Zappelphilipp, der auf ADHS hindeutet. Doch viele Diagnosen werden im Erwachsenenalter gestellt. Was ist der häufigste Grund, dass sich Erwachsene abklären lassen?
Früher war die landläufige Meinung, dass ADHS (oder damals POS) sich «auswächst». Dem ist nicht so, vielmehr aber lernen viele Betroffene, sich zu arrangieren respektive richten sich ihren Lebensrhythmus entsprechend ein. Auch gibt es nicht nur den hyperaktiven Typ ADHS, sondern auch die schwerer zu erkennenden unaufmerksamen (Träumer*innen) oder kombinierte Typen.
Erwachsene merken häufig durch die Diagnose ihrer Kinder, dass sie «ähnlich ticken» und lassen sich abklären. Oder aber Symptome verstärken sich durch ungünstige Umwelteinflüsse in unserer sich immer schneller drehenden Welt: Steigender Druck, viele parallele Kommunikationskanäle und ständige Erreichbarkeit - und wenn es an Anpassungsmöglichkeiten und Erholung fehlt, funktionieren Bewältigungsstrategien plötzlich nicht mehr. Der Leidensdruck wächst, Erschöpfung stellt sich ein, und im schlimmsten Fall kommt es zu einem Burnout und erst im Nachgang zu einer Diagnose.
ADHS kann sich bei Betroffenen unterschiedlich äussern. Welche Symptome sind ein klarer Hinweis, bei denen Sie eine Abklärung empfehlen?
Ob eine Abklärung sinnvoll ist, hängt vom Leidensdruck ab und davon, ob einem für das Finden von Strategien im Umgang mit den Herausforderungen eine Diagnose hilft.
In Bezug auf den Arbeitsalltag können Schwierigkeiten mit Aufschieben von Aufgaben, Überadministration von Routinearbeiten, sich in Details verlieren, mit Terminen zu spät dran sein und Dinge vergessen oder nicht ganz zu Ende bringen, Anzeichen sein. Auch kann es Phasen hoher Leistungsfähigkeit geben, die die Gefahr bergen, dass man sich zu viel aufbürdet/aufbürden lässt und danach nötige Regenerationszeit fehlt.
Die sensorische Komponente in neurodivergentem Stress wird oft unterschätzt (Stichwort Reizüberflutung) – aber Geräusch- oder Bewegungskulissen, zum Beispiel im Grossraumbüro, sowie soziale Anforderungen wie Teampausen können viel Energie kosten.
Reden wir von den positiven Aspekten des ADHS in Bezug auf die Arbeit. Wie können diese ideal zur Geltung kommen?
ADHS-ler*innen haben viele Qualitäten, die für Arbeitgeber*innen wertvoll sind. Viele haben die Fähigkeit, unkonventionelle Lösungen zu finden, sind beispielsweise sehr kreativ oder vielschichtig interessiert, und haben einen starken Gerechtigkeitssinn. Wichtig im Arbeitsumfeld ist, dass die individuellen Stärken gesehen und eingesetzt werden. Was jede*r Einzelne braucht, um gut arbeiten zu können, ist hingegen sehr individuell. Es sollte deshalb ein Grundverständnis für Neurodiversität vorhanden sein. Eine Offenheit, unterschiedliche Wahrnehmungsrealitäten anzuerkennen und nicht kleinzureden – «du musst dich nur mehr anstrengen.» Damit ist die Basis geschaffen, dass für Herausforderungen Lösungen gefunden werden können: zum Beispiel Homeoffice, Meetingstruktur oder Akzeptanz für andere Pausenrhythmen. Auch die Teamzusammensetzung ist wichtig. Es gibt Studien, die belegen, dass neurodiverse Teams leistungsfähiger sind (bis zu 30% produktiver) als homogen zusammengesetzte. Die wichtigste Grundlage ist aber eine wertschätzende Kultur und psychologische Sicherheit, damit ohne Stigma über Bedürfnisse gesprochen werden kann.
Wie gross ist die Akzeptanz der Unternehmen in Bezug auf neurodivergente Mitarbeitende?
Das Thema Neurodiversität und Arbeit kommt langsam auf den Radar. (Neurodivergenz bedeutet, dass bestimmte Gehirnfunktionen einer Person deutlich anders arbeiten als bei der Mehrheit der Menschen.) Das Bewusstsein ist gerade in den letzten Monaten stetig gewachsen. Noch sind neurodivergente Diagnosen aber oft negativ konnotiert und die Herausforderungen stehen im Vordergrund. Firmen mit Neurodiversity Employee Communities wie zum Beispiel die Swisscom oder Accenture fördern damit die Sichtbarkeit. Es dürfen weitere Firmen folgen. Ich persönlich finde, dass Grundwissen zu Neurodiversität in jede Führungsausbildung gehört und ein festes Thema im betrieblichen Gesundheitsmanagement sein sollte.
Warum ist eine Diagnose im fortgeschrittenen Alter immer noch wertvoll?
Sich selbst und die eigenen Bedürfnisse gut zu kennen, ist wichtig, um nicht zu ermüden oder auszubrennen. Eine Diagnose kann dabei helfen, die eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und dafür einzustehen. Für viele ist es zudem eine grosse Entlastung zu wissen, dass es neurobiologische Gründe für Dinge gibt, die anderen scheinbar mühelos gelingen. So kann man sich besser darauf konzentrieren, was einem guttut, Freude bereitet und worin man wirklich gut ist.